Das Leuchten der Sybille
Hommage an die Teck und die Schwäbische Alb von Reiner Nikulski

Vermutlich hat noch nie jemand etwas von der Sybillenspur gehört. Im Lautertal unterhalb der erhabenen Teck hatten Bauern schon seit Jahrhunderten festgestellt, dass auf zwei parallelen Spuren, die schnurgerade, aber schräg über die Äcker laufen, das Korn besonders hoch wächst. An abergläubigen Stammtischen im dunklen Mittelalter entstand daraus – wohl von direkten Vorfahren von Käpt´n Blaubär – die Sage, dass in der Höhle direkt unterhalb der Burg Teck einmal eine Sybille gelebt habe. Sie sei reich an Edelsteinen gewesen und ein jeder in Not konnte sich ihres Trostes und ihrer Hilfe sicher sein.

Nicht so angetan war sie jedoch von ihren drei Söhnen, die sich rund um das Lautertal prächtige Burgen gebaut und die Landbevölkerung heftig unterjocht hatten. Aus Gram darüber sei sie in einer stockdunklen Nacht mit wehenden Haaren auf einem von zwei riesigen Wildkatzen gezogenen Wagen für immer verschwunden. Die auf den Spuren dieses Wagens besonders gedeihenden Feldfrüchte seien für Jahrhunderte das Letzte gewesen, was von der Güte der Sybille übriggeblieben war.
Eine schaurig schöne Geschichte, mit der man Kindern vor dem Einschlafen das Fürchten lehren kann. Da aber weder ein Goethe noch die Gebrüder Grimm sie je aufgeschrieben haben, fand sie keinen Eingang in die gängigen Märchen und wurde vergessen.

Schwäbische Alb

Die Teck von der A8 aus gesehen

Tatsächlich fand man erst in den 1970er-Jahren durch neuartige geologische Luftaufnahmen heraus, dass diese schnurgerade Spur noch viel weiter von Köngen am Neckar bis Donnstetten auf der hohen Schwäbischen Alb führte. Durch Grabungen stellte man fest, dass dies ein bis dahin unbekannter römischer Grenzwall war, der lange vor dem bekannten, aber weiter nördlich liegenden Limes (siehe Asterix) existierte. Durch weitere Funde ergab sich, dass entlang dieses Walls ein pulsierendes römisches Leben, bestehend aus Handelsstädtchen, Kastellen und Badehäusern (mit Fußbodenheizung!) existierte.

Die Alb ist eigentlich eine Gegend, die durch den Spruch „es gab wenig Brot und viele Steine“ bekannt war. Dass hier vor 2000 Jahren mal eine solche frühe Hochkultur existierte, von der buchstäblich nichts übriggeblieben ist, ist schon merkwürdig. Wie wird wohl unsere heutige Kulturlandschaft in 1000 Jahren aussehen?
Da die Römer ihren Grenzwall durch zwei parallele Gräben mit hohen Erdanhäufungen errichteten, ließ sich das erhöhte Wachstum auf dieser Spur einfach durch den erhöhten Humusanteil erklären. Damit ist die Sage von der Sybille wohl ad acta gelegt.

Oder etwa doch nicht?

Es war im tiefsten Winter. Die neuen Ideen für den Rennermotor erforderten überarbeitete Teile, die uns einmal mehr unser erfahrener Schleifer bearbeiten sollte. Er hat seine Tüftlerwerkstatt hoch oben auf der Schwäbischen Alb, eben just oberhalb des besagten Lautertales. Und er hat die Angewohnheit, dass man für ein sorgfältiges Durchsprechen der Aktionen früh bei ihm erscheinen muss. Sehr früh! Eben bevor das Telefon nicht mehr stillsteht und ein Termin den anderen jagt.

Schwäbische Alb

Für so eine Aussicht muss man nicht zwingend in die Alpen fahren!

Man muss nur den Hintern hochkriegen und sich aus dem Nebel unten heraustrauen.


Das bedeutet, dass ich vor 6 Uhr aufbrechen muss. Die Wetterlage ist seit Tagen stabil und die Straßen sind trocken. Da könnte man doch trotz tiefsten Winters das Gespann nehmen. Gesagt, getan. Aber schon beim Herausschieben der braven Hercules aus der Werkstatt kommen erste Zweifel. Es herrscht zwar Vollmond, aber er steht weit, weit weg und sehr tief. Es ist noch stockdunkel und saukalt. Minus 5°C zeigt die Säule an der Außenwand. Da werden es oben in den Bergen noch ein paar Grade weniger sein.

Beim Herausrollen auf die Landstraße gleich die nächste Überraschung: von wegen trockene Straße! Die Straßenoberfläche wechselt dauernd von ganz dunkelfeucht, so dass die H4-Lampe nur ins Leere leuchtet, zu weiß hin und her. Ist das dicker Rauhreif oder Salzreste? Im Lenker ist noch nichts zu spüren, also nur nicht bange machen. Ein Zurück gibt es jetzt sowieso nicht mehr. Sonst komme ich zu spät.

Auf der serpentinenreichen Auffahrt zum Hohenstaufen gleich der nächste Schreck. Es ist noch niemand unterwegs. Klar, welcher Idiot steht an einem Samstag mit strengem Frost vor 6 Uhr auf. Aber dann, in einer Rechtskurve ist plötzlich ein Licht hinter mir – ganz nah. Hölle, wo kommt der auf einmal her? Und ist auch schon wieder weg. Linkskurve – nichts. Nächste Rechtskurve: das gleiche Spiel. Da spielt irgendein Idiot ein Spiel mit mir. Die kurvenreiche Straße in vollkommener Dunkelheit lässt keinen längeren Blick nach hinten zu. A…loch! So geht es noch ein/zweimal, bis ich dann entdecke, dass in Rechtskurven immer für ein paar Sekunden der tiefstehende Vollmond im Rückspiegel erscheint. Puuuh!

Vor Kirchheim muss man weit durch einen tiefen Wald. Gibt es überhaupt noch eine Steigerung zu stockdunkel? Noch immer wechselt die Straße von feucht zu weiß und zurück. Nun sind schon ein paar Frühschichtler unterwegs. Richtig langsam tasten sie sich auf der eigentlich weit geschwungenen Landstraße vor. Häääh? Das Gespann reagiert eigentlich sofort auf Glätte. Durch die Unsymmetrie und die direkte Lenkübersetzung hat man schon bei Geradeausfahrt deutliche Lenkkräfte, die bei aufkommender Glätte sofort stark abfallen. Zudem braucht man wesentlich größere Lenkwinkel. Der „Lenker wird weich“. Es ist aber nichts zu spüren. Möglicherweise schlagen die unzähligen  Assistenzsysteme in den modernen Luxuslinern Großalarm und schüchtern die Fahrer komplett ein. Man weiß es nicht.

Die Kirchheimer Umgehungsstraße führt - immer noch in dem dunklen Wald - auf die Autobahn zu. Deswegen sind jetzt schon viel mehr Entgegenkommende unterwegs. Jetzt kann man richtige Scheinwerferstudien betreiben. Es gibt nur noch wenige Funzeln, einige normale Lichter, viele hellere Leuchter und richtig eklige „Photonenbooster“ – vermutlich diese LED Leuchten? Es ist ein gleißendes, scharf abgegrenztes Licht, was ein bisschen an das Fegefeuer erinnert.

Rundherum ist vollkommenes Dunkel. Der eigene Scheinwerfer ist dadurch wohl eingeschüchtert und leuchtet scheinbar gar nicht mehr. In der funktionalen Sicherheit nach ISO 26262 ist ein solcher Fall möglicherweise betrachtet worden, hat aber aufgrund geringer Eintrittswahrscheinlichkeit „Exposure E“ in der „ASIL-Klassifikation“ die Gefährdungsbeurteilung nur wenig beeinflusst. Das juristische Zertifizierungsgeschwätz nützt mir jetzt gar nichts. Ich habe keine andere Wahl, als blind in das schwarze Loch rechts neben dem gleißenden Licht zu fahren. Das ist gemeingefährlich! Trotz – oder vielleicht gerade wegen – dieser sturen prozessmäßigen Betrachtungen schleicht sich langsam das „Unsafe at any speed“ wieder in die Fahrzeugwelt ein. Ralph Nader lässt grüßen.

Hinter der Autobahnauffahrt taucht die Landstraße in das Lautertal ein. Die Verkehrsdichte nimmt rapide ab. Und – wie ich später herausfinde – genau auf der Sybillenspur kommt mir in den Sinn, dass jetzt links oben dieser Teckberg liegen muss. Tatsächlich ist er dort. Aber was ist das?

Wow! Hinter der Teck scheint die Sonne aufzugehen. Ein herrliches Morgenrot legt sich wie eine Krone auf den langen Bergrücken. Booaah! Ein sagenhaftes Bild. Sämtliche Unbill der letzten Stunde ist sofort vergessen. Sämtliche Zweifel, ob das Gespann die richtige Wahl war, komplett weggeblasen. Das wird ein herrlicher Wintertag werden. Und im Nachhinein bin ich eigentlich davon überzeugt, dass mir diese Sybille in den Tag geleuchtet hat. Es kann nicht anders sein!

Schwäbische Alb

Mitten auf der (unsichtbaren) Sybillenspur

unterhalb der Teck, dieses Mal bei frühlingshaftem Wetter.

Als ich nach langem Palaver aus des Schleifer´s Werkstatt trete, ist die Sonne immer noch nicht über den Berg gestiegen. Es ist immer noch knackig kalt. Und immer noch liegt das Dorf in morgendlicher Samstagsstille. Aber ein tiefblauer Himmel hat sich über die vor mir liegende Bergkette gelegt. Klasse! Ich werde rüberfahren zum Alten Lager bei Münsingen, ein riesengroßer Truppenübungsplatz, der längst aufgegeben und zu einem unberührten Biotop geworden ist. Dort kann man beim Sonnenaufgang in Ruhe philosophieren. Und mir danach in Laichingen, dem einzigen Albstädtchen weit und breit, ein Frühstückscafé suchen.

An den Nordhängen hält sich auch nach Sonnenaufgang noch lange der Frost!

Schwäbische Alb

Eigentlich sollte ich jetzt zu Hause am Rennermotor weiterarbeiten. Aber nach einem so toll eingeleiteten Tag lasse ich die heimische Werkstatt Werkstatt sein und beschließe, hier noch ein bisschen auf Spurensuche zu gehen. Die Gegend hier hat nämlich auch noch eine jüngere Geschichte, stand doch vor 100 Jahren rund um die Teck eine der Wiegen der Fliegerei, speziell der Segelfliegerei. Unternehmen wie Wolf Hirth, Schempp/Hirth, Glasflügel und Graupner zeugen noch heute davon. Das große Oldtimer-Fliegertreffen auf der nahen Hahnweide mit Hunderten von Teilnehmern ist unter Insidern weltweit bekannt. Und geheimnisvolle, kreisrunde Betonsockel mitten im Wald zeugen davon, dass hier in böser Kriegszeit mit Raketenstartplätzen etwas ganz Übles geplant war.

Schwäbische Alb

Häääh?
Motorrad + Schnee + Kamel?

Auch das gibt es auf der Schwäbischen Alb: Winterquartier eines Wanderzirkus.

Die Lifte laufen immer seltener auf der Schwäbischen Alb.

Nicht zu leugnen, es wird wärmer!

Schwäbische Alb

Vielleicht ist dem einen oder anderen auf der A 8 kurz vor dem Aichelberg schon mal diese Burg auf dem hohen Berg aufgefallen. Vielleicht hat er sich dann auch noch kurz gedacht, dass es eigentlich aussieht wie auf einer Märklin Eisenbahn. Vermutlich sind diese Gedanken aber durch das navi-getaktete schnelle Fortkommen auf der inzwischen bolzbreit ausgebauten A8 gleich wieder verschwunden. Ich jedenfalls werde mich gerne auch weiterhin durch solche kleinen Geschichten am Wegesrand ablenken lassen. Auch und gerade, wenn sie unter schwierigen Vorzeichen beginnen. Im Nachhinein bin ich meinem Schleifer dankbar für seine Marotten mit dem frühen Aufstehen. Sonst hätte ich den Arsch im Winter wohl auch nicht so früh hochgekriegt.

Und wenn jetzt der Rennmotor nicht rechtzeitig fertig wird und der Projektleiter tobt, werde ich einfach sagen, dass mich das Leuchten der Sybille verführt hat. Ganz klar!

© 2020 Reiner Nikulski - Hercules Wankel IG

Letzte Aktualisierung am 24.04.2020  

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