Nikulski in Mazurski - am äußersten Rande der EU
von Reiner Nikulski

Ich habe meine Großmutter nur als gebeugte, immer schwarz gekleidete Frau gekannt. Sie ist dann auch gestorben, noch bevor ich in die Schule kam. Dass der Opa da schon 25 Jahre tot war, sie zusammen vor nunmehr 100 Jahren der Arbeit wegen ins Ruhrgebiet kamen und ihr geliebtes Masuren nie wieder gesehen haben, hat mich als Kind und erst recht später als Jugendlicher nur wenig interessiert.

Das änderte sich erst, als ich beim Ausräumen meines Elternhauses ein altes Köfferchen fand. Geburts-, Heirats- und Taufurkunden zurück bis 1850 tauchten auf. In einem kaum entzifferbaren Brief - Sütterlin-Schrift - war von sieben Geschwistern die Rede, von denen fünf bereits im frühen Kindesalter gestorben sind: ertrunken, Lungenentzündung, Diphterie, verbrannt, im Moor vermisst. Eine harte Gegend und ein hartes Leben! Für uns heute unvorstellbar. Und so langsam kamen auch Erinnerungsfetzen wieder, die ich wohl doch bei diversen Verwandtschaftserzählungen aufgeschnappt hatte:

Von bis zum Dachfirst eingeschneiten Häusern war da die Rede.
Von Wölfen, die in harten Wintern bis in den Hühnerstall eindrangen.
Von tagelangen Eisenbahnfahrten in rumpeligen Dritte-Klasse-Wagen.
Und von heißen Sommern in sanfter Heidelandschaft.

Masuren mit dem Wankel-Gespann

So hat alles angefangen:
Das geheimnisvolle Ostpreußen-Köfferchen mit dem schwer lesbaren Brief in Sütterlin.

Das Ganze hatte mich zwar neugierig gemacht und ich hatte auch schon in alten Landkarten ausgetüftelt, wie diese Dörfer und Städte heute auf polnisch heißen. Ich hätte aber nie gedacht, dass ich jemals in diese Gegend kommen würde. Immerhin liegt dieses Elk/Lyck auf halbem Wege zwischen Stuttgart und Moskau. Ein Ostseeurlaub nahe Rügen war jedoch dann der ideale Ausgangspunkt. Also los! Dabei war es natürlich Ehrensache, dass das brave Hercules Wankel Gespann für die Fahrt in die Vergangenheit ausgewählt wurde. Selbst vom äußersten Nordosten Deutschlands sind es aber immer noch 700 km bis dort hinüber. Die 550 km bis Elblag/Elbing sollten in einer Tagestour zu machen sein. So was hatte ich schon öfters gemacht. Da wusste ich aber noch nichts von der Eintönigkeit von Polens Norden!

Auffällig ist schon ganz am Anfang, dass unmittelbar hinter der Grenze alles anders wird. Im Swinoujscie/Swinemünde lassen sich noch einige deutsche Touristen per Pferdekutsche über grobes Kopfsteinpflaster hoppeln. Aber um gleich vorab mit dem Klischee aufzuräumen: In den folgenden Tagen werde ich in ganz Polen kein Pferdegespann mehr sehen. Und auch keine ausländischen Kennzeichen mehr. Obwohl die Ostseeküste der neuen Bundesländer ja touristisch recht gut frequentiert ist, verliert sich niemand mehr nur ein paar Kilometer weiter an die polnische Küste. Weiter im Osten sollten dann noch ein paar russische und litauische Lastwagen auftauchen, ansonsten sind die Polen unter sich.

Masuren mit dem Wankel-Gespann
Ausschließlich polnische Kennzeichen.

Masuren mit dem Wankel-Gespann

Aber das heimische Autohaus fällt trotzdem gleich ins Auge.
Noch mit 4-stelliger Postleitzahl. Die Gebrauchten sind dort noch lange gut in Schuss.

Und dann beginnt die Eintönigkeit. Es geht an topfebenen und elend langen Kornfeldern vorbei. Die längsten erreichen am Tacho abgelesene fünf km Länge! Bei kaum überblickbarer Breite. Ungetüme von Mähdreschern sind darauf zugange. Auf den bereits abgeernteten Flächen liegen diese runden Riesenstrohballen herum. Die, vor denen man sich als Motorradfahrer in Acht nehmen muss, weil sie mit bis zu 5 t alles platt walzen und auf diesen Landwirtschaftsanhängern nie wirklich richtig befestigt sind. Hunderte von diesen Dingern sieht man auf einem einzigen Feld. Unvorstellbar für einen deutschen Landwirt, zumindest für einen Süddeutschen. Wie viele Knechte waren früher auf den pommerschen Gutshöfen zum Abernten dieser Riesenflächen notwendig?

Masuren mit dem Wankel-Gespann

Fähre über das Stettiner Haff. Und da hinten kündigt sich schon an, wie die nächsten 9 Stunden sein werden: Flach! Und weit!

Entlang dieser Felder verläuft die Straße schnurgerade. Die langen Geraden verschwinden einfach irgendwie am Horizont? Das muss wohl schon der Einfluss der Erdkrümmung sein. Dann weiß man genau, dass innerhalb der nächsten 5-10 Minuten nicht viel zu sehen sein wird. Etwas Aufregendes schon gar nicht.

"Abwechslung" bieten dann genau so weitläufige Wälder. Wobei die Landkarte ernst zu nehmen ist. Wenn zwischen zwei Orten 15 km Waldfläche ausgewiesen ist, dann ist das ein tiefer Wald. Natürlich von langen Geraden durchzogen! Da gibt es kein Gehöft, keinen Parkplatz, kein Haus und keine Lichtung dazwischen. Trotzdem gibt es wohl eine Besiedlung. Immer wieder sieht man alte Großmütter oder Kinder an querenden Waldwegen sitzen, um Beeren oder Honig zu verkaufen. Und das zeugt davon, dass es wohl noch wirklich Armut gibt in der EU. Würde bei uns jemand seinen Zwölfjährigen in einen einsamen Wald schicken, um an einer Fernverkehrsstraße mit allerlei möglichem Gesindel Selbstgemachtes zu verkaufen?

Einmal halte ich an einem Waldweg, um nach dem vergessenen Öltank zu schauen (es hat schon mal jemand auf einer Osttour vergessen, Öl nachzufüllen). Wie aus dem Nichts ist plötzlich ein Junge da. Vollkommen ohne Scheu lehnt er sich auf den Beiwagen, beäugt alle Tätigkeiten ganz genau. Sagt nichts. Vollkommen arglos. Ich schenke ihm die leere Ölflasche. Große Augen. Irgendwo in der polnischen Provinz wird fortan ein "Stihl Gral" das Kinderzimmer zieren. Wenn er denn überhaupt ein eigenes Zimmer hat.

Nach einem halben Tag, gefühlte zwei Tage, erreiche ich endlich die größere Europastraße - und werde gleich wieder geschockt. Gdansk 240 km (immer noch 80 km vor dem Etappenziel). Demoralisierend! Können die nicht einfach nur den nächsten Ort anschreiben? Ansonsten ändert sich nicht viel an der Streckenführung, nur der Verkehr nimmt zu. Teilstücke sind jetzt als richtig moderne Autobahn angelegt. Was auch nicht wirklich aufmunternd ist. Jetzt fehlen auch noch die querenden Wege und die Beerenverkäufer. Man ist vollkommen abgeschottet!

"Die Gegend hier liegt so weitab vom Schuss, dass es ganz besonderer Tatkraft bedarf, um überhaupt bis hierher zu gelangen.
Und ich bleibe auf diese Weise von Gelegenheitsbesuchern verschont …"
Elisabeth von Armin (1866-1941), englische Schriftstellerin, die in Pommern verheiratet war.

In Gdansk/Danzig soll es ja wieder eine richtig schöne Altstadt geben. Ich erlebe es nach der langen Eintönigkeit allerdings nur als anderes Extrem. Fernverkehrsführung mitten durch die Stadt, Verkehrsmoloch und ein einstündiges "Stop and Go" an einer Baustelle.

Den polnischen Verkehr muss man nehmen wie er ist. Aufregen darf man sich nicht. Schon in der Einsamkeit läuft man immer wieder auf Fahrzeuge auf, die auf einer breiten, geraden Fernstraße mit 58 ½ km/h daherrollen. Beim Überholen stellt man dann fest, dass der Fahrer keinesfalls abgelenkt oder etwa in engem Kontakt mit der Beifahrerin ist, sondern einfach mit wehmütigem Blick vor sich hin starrt. Vielleicht wirken sich diese "endlosen Geraden in trostloser Landschaft" doch auf die Psyche aus. Extrem wird das dann in den wenigen Städten. Nach einer roten Ampel tobt eine Beschleunigungsorgie von 0 auf 25, gegen die sogar der ECE Abgaszyklus einem Formel 1 Start gleicht. Dort verharrt es dann erstmal. Nach einer Weile folgt dann ein weiterer Schub auf vielleicht 35-40. Dann scheint der Fahrer schon wieder in diese tiefe Melancholie gefallen zu sein. Man könnte dann noch weiter beschleunigen, aber auf den 500 m bis zur nächsten Ampel lohnt sich das ja auch nicht mehr wirklich!

Als Gegenpol gibt es dann jene Extremisten, die noch den letzten Meter auf der letzten Rille zum Überholen nutzen. Nur um 300 m weiter nach links abzubiegen. Das sind dann wohl die jungen Starken (oder Halbstarken?), die in großer Zahl in Muscle-Shirts mit entschlossenen Gesichtern die Straßen bevölkern. Auffallend viele hübsche Mädchen gibt es auch, bei denen dann sogar auch mal ein Lachen, Tratschen oder Kichern zu sehen und hören ist. Ansonsten herrschen Brummigkeit und Griesgrämigkeit vor. Vielleicht ist das aber auch nur ein vorschneller, erster Eindruck.

Ich lasse Danzig links liegen, überquere die Weichsel und erreiche nach 11 Stunden im Sattel endlich Elblag/Elbing. Hinter der schmuddeligen Vorstadt bin ich dann aber auf der Stelle versöhnt. Die Altstadt ist komplett wieder aufgebaut. Nagelneu, aber im alten Ziegelstein-Baustil. Absolut original nach dem alten Vorbild, wie ein großes Foto aus den 1920er-Jahren eindrucksvoll zeigt. Auch das grobe Kopfsteinpflaster ist original. Zahlreiche Hotels, Restaurants und Straßencafés laden ein. Der alte Stadtturm mit der Skulptur des Bäckerjungen, Held des Mittelalters bei der Verteidigung gegen die Schweden, ist als Museum erst frisch wieder aufgebaut.

Masuren mit dem Wankel-Gespann

Elbing: Neu aufgebaute Altstadt. Historische Straßenbahn als Info-Stelle.
Und das große Gebäude hinten ist eine Fabrik in vollem Betrieb!

Direkt vor der Altstadt schließen sich große Industriehallen an, ebenfalls im gleichen Backsteinbaustil. Sie sind tadellos in Schuss und, wie jaulende Kräne aus dem Inneren verraten, noch in Betrieb. Das waren wohl mal die Schichau-Werke. Zusammen mit Königsberg waren dies die einzigen Orte östlich der Weichsel, in denen wenigstens ein Hauch der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts angekommen ist. Deswegen gab es bereits 1890 auch eine Straßenbahn in der Stadt! Die erste Probefahrt des Personals endete allerdings am Streckenende mit einer Havarie. Wahrscheinlich hatten diese westlichen "Industrierevolutionäre" das Bremsen nicht richtig erklärt. Eisenbahnfans werden Schichau/Elbing von den Dampfloks her kennen. Im Nachkriegspolen wurde das Werk zusammen mit dem Danziger Zweigwerk zur berühmten "Leninwerft". Klingelt es da? Solidarnosc, in den 1980ern?

Dazwischen geht es runter zum Nebenmündungsarm der Nogat. Docks des Werkes, eine alte Zugbrücke und weitere Cafes bilden ein friedvolles Bild. Auf der anderen Flussseite sinnieren Angler vor sich hin. In den Ruinen des alten Klosters dudelt eine Jazz Combo.

Ich steige im ersten Haus am Platze ab. Vor allem auch, weil es da eine Tiefgarage gibt. Ich halte zwar nicht viel von diesen Vorurteilen, aber weiß man´s? Ein echtes First-Class-Haus mit super Restaurant zu einem Preis, für den ich heute Morgen in Deutschland gerade mal ein Pensionszimmer gekriegt hätte. Und wie die vielen anderen Läden in der Altstadt ist es quasi leer. All diese Neubauten sind ja vermutlich mit EU-Geldern gefördert worden. Die waren in diesem Fall wirklich gut angelegt. Aber so gar kein Tourismus bei solchen Angeboten ist dann auch wieder schade.

Masuren mit dem Wankel-Gespann

 

Hotel Elbing:
Frühmorgens oder spätabends gab es nie richtiges Fotolicht.

Und den restlichen Tag war ich auf der Straße. Trotzdem darf man dieses Beispiel für nagelneuen, aber originalgetreuen Wiederaufbau nicht vorenthalten.

Ach ja, übrigens Tiefgarage bzw. Hercules. Da gibt es eigentlich nichts zu berichten. Problemlos hatte sie die 600 Tageskilometer runtergeschnurrt. Weder die Autobahnabschnitte, noch die langen Geraden oder die Stadt-Staus zeigten irgendeine Wirkung. Ist ja auch eine Wankel! Im Gegenteil hat dieses lang anhaltende, gleichmäßige Rollen, oftmals durch die bummelnden Melancholiker gebremst und von kräftigem Westwind unterstützt, zu einem superniedrigen Verbrauch geführt. Das bestätigen übrigens viele "Nordlichter".

Am nächsten Tag wird es auch auf dem Land endlich freundlicher. Es tauchen erste Seen in grüner Hügellandschaft auf. Von Olsztyn/Allenstein hört man immer mal wieder in Reiseberichten. Dieser Kopernikus hat von hier aus die Planeten beobachtet. Ich habe aber nur große Plattenbauten gesehen. Zumindest da, wo der Fernverkehr durchgeleitet wird. Wahrscheinlich hätte man sich, wie schon in Danzig, Zeit für die Altstadt nehmen müssen.

Es geht weiter ostwärts. Hinter Mragowo/Sensburg wird es einsam. Ab Mikolajki/Nikkolaiken ist man vollkommen allein. Sogar die offizielle Fernstraße ist auf 20 t beschränkt. Die Landschaft wird dann irgendwie magisch. Das klingt jetzt kitschig-romantisch, ist aber tatsächlich schwer zu beschreiben. Auch die Bilder können das nur im Ansatz zeigen. Da müssen bessere Fotografen her.

Masuren mit dem Wankel-Gespann

Easy-Rider vor alt-preußischem Bahnhofsgebäude.

John Kay auf Spurensuche? Ja wirklich!

Der Frontmann von Steppenwolf - die mit der Rockerhymne "Born to be wild" - wurde in Ostpreußen geboren.

Es gibt nur noch vereinzelt alte Häuser, die überwiegend noch aus Kaisers Zeiten stammen. Nicht frisch renoviert, aber auch nicht verfallen. Bewohnt eben. Es gibt kaum Neubauten, keine Gewerbegebiete und keinerlei Industrie. Grüne, saftige Wiesen und Wälder liegen in sanften Hügeln. Darin eingebettet immer wieder diese unzähligen Naturseen in allen möglichen Größen. Und für uns vollkommen ungewohnt: keine Liegewiese, kein Kiosk, keine Surfer, kein Spazierpfad. Einfach nur Natursee mit Schilf- oder Waldufer. Höchstens mal ein Anlegesteg vom Dorf her - für die Angler.

Dann folgt wieder eine weite, flache Heide-Sumpflandschaft. Immer wieder stehen abgestorbene Bäume und Birkenwäldchen im Sumpfwasser. Vollkommen sich selbst überlassen. Man hat den Eindruck, dass es schon jahrelang nicht mehr betreten wurde. Durch diese Heide führen ganz dichte Alleestraßen. Teilweise fährt man wie unter einem Dach. Dann gibt es wieder ganz weitläufige, dichte Wälder (Kiefern?). All das wechselt sich innerhalb weniger Kilometer ständig miteinander ab. Parallel läuft eine alte Eisenbahnlinie. Sie sieht eigentlich stillgelegt aus, mit vollkommen zugewachsenen Gleisen. Ist sie aber wohl nicht. Vor den schrankenlosen Bahnübergängen stehen Stop-Schilder. Die werden von den Einheimischen penibel genau befolgt. Ich mache es denen lieber nach. Die werden wissen, warum!

Masuren mit dem Wankel-Gespann

Vollkommen ungesicherter Bahnübergang der Kleinbahn. Auf der Fernstraße!

Masuren mit dem Wankel-Gespann

Die Stop-Schilder sollte man ernst nehmen!

Ich finde das Dorf meiner Großeltern. Von der Hauptstraße her schlängelt sich ein Schotterweg zu gerade mal sechs Häusern. In einem Haus ist die Jahreszahl 1939 eingemauert, die anderen scheinen noch älter zu sein. Eine ausgefahrene Graswegspur führt zu einem erhabenen Stallgebäude im Hinterhof, wieder im typischen roten Backsteinstil. Rechts schließt sich ein Garten mit ganz alten Obstbäumen an. Von hinten lugt ein Gaul gelangweilt von der Weide her rüber. Ein filmreifes Bild. Stände da nicht die Betonmischmaschine und hätte ich vorhin auf dem Feld nicht den ziemlich betagten Traktor gesehen, würde ich sagen: Hier hat sich seit 1913 nicht viel verändert.

Nicht weit entfernt gibt es große Kriegsgräberstätten. Laut Internet ist diese Gegend im Ersten Weltkrieg ein paar Mal von Deutschen und Russen hin und her erobert worden. Da muss meine alte Verwandtschaft ja mitten drin gewesen sein. Da ist nie etwas drüber erzählt worden. Oder ich hatte nicht zugehört.

Masuren mit dem Wankel-Gespann
Filmreife "locations" (wie man heute so sagt):
Der Naturweg schlängelt sich hinauf zum Oberdorf.

Masuren mit dem Wankel-Gespann
Stallungen im Hinterhof.

Masuren mit dem Wankel-Gespann
Am Ziel:
1090 km Luftlinie von Stuttgart und "nur" noch 980 bis Moskau.

Das Kreisstädtchen Elk/Lyck ist ein richtiges Kleinod. Direkt an einem langgestreckten See gelegen gibt es eine Promenade. Eine kleine Insel liegt mitten im See, über die - durch zwei kurze Brücken verbunden - ein Sträßchen zum Naturufer auf der anderen Seite führt. Ein kurzer Anstieg führt zur eigentlichen Kernstadt auf dem Hügel mit der geschäftigen Ladenzeile. Das gegenüberliegende Ufer ist nur weiter südlich bebaut und somit haben diese Häuser, egal ob oben oder unten, einen traumhaften Ausblick über den See und die sich anschließende Heidelandschaft. Gut, dass es so weit abgelegen liegt, nur 70 km von Weißrussland entfernt. Sonst hätten Immobilienhaie schon längst ein nobles Schwabing oder so etwas daraus gemacht.

Masuren mit dem Wankel-Gespann

Masurische Seen in allen Größen und Formen. Alle vollkommen unberührt.

Masuren mit dem Wankel-Gespann

Steg und Bank direkt vor dem Haus.

Masuren mit dem Wankel-Gespann

Wolfsheide: schön schaurig, schaurig schön!

Ich durchquere die Wolfsheide, ein einsames Truppenübungsgelände mit sumpfiger Heidelandschaft, weiten Wäldern und Mooren. Romantisch schön zwar, aber mir graust es bei dem Gedanken, dass man sich als Militär-Azubi hier zu Fuß durchschlagen müsste.

Masuren mit dem Wankel-Gespann

Wer aus unserer zivilisierten Gegend kennt das noch? So versumpfen Wälder. Und so entsteht ein Moor. Und die unheimlichen Geschichten über Moorleichen.

Ich lasse mich weiter treiben und drifte nach Norden ab. Bei Ketryzin/Rastenburg komme ich an der berüchtigten "Wolfsschanze" vorbei. Auf einmal sieht man wieder ausländische Kennzeichen, überwiegend deutsche. Mag sich jeder selber seinen Reim darauf machen.

Es gibt wieder etwas mehr Landwirtschaft und die Dichte der Landstraßenalleen nimmt immer mehr zu. Nicht weit von Kaliningrad/Königsberg entfernt muss ich nach Westen abdrehen. Es wäre mehr als interessant gewesen, aber als immer noch russische Enklave (wegen der Kriegsflotten-Häfen) hätte ich Reisepass und Visum gebraucht. Aber auch gut, es dämmert bereits und bis Elbing rüber sind es nur noch 80 Kilometer.

Masuren mit dem Wankel-Gespann

Sanfte Hügel und immer wieder Sumpflöcher dazwischen.
Großflächige Landwirtschaft wie im ehemaligen Pommern gibt es deswegen in Masuren nicht.
Keine Industrie + kaum Landwirtschaft = Einsamkeit.

Aber dann stehe ich plötzlich vor einer großen Baustellenabsperrung. Ein ellenlanger polnischer Text erklärt wohl irgendwas. Aber was? Nach Norden geht es nicht weiter. Da ist Russland. Der sichere Weg wäre jetzt, der einzig größeren Straße in der Gegend 50 km nach Süden zu folgen, nochmals das Verkehrselend Allenstein zu durchqueren, 60 km nach Westen und dann wieder 70 km auf der Autobahn nach Norden zu fahren. Ein satter Umweg.

Masuren mit dem Wankel-Gespann

"Katzenkopfpflaster", hätte der Klacks gesagt. Bestimmt auch noch aus Kaisers Zeiten. Verkehrsdichte Null!

Also wage ich es, am nächsten Abzweig nach Westen in die ganz tiefe Provinz einzutauchen. Die Straßen werden extrem klein. Bei entgegenkommenden Lastwagen muss ich sogar mit dem schmalen Gespann anhalten. Das Gegenlicht der untergehenden Sonne lässt die Alleen wie dunkle Löcher erscheinen. Es beruhigt auch nicht besonders, dass hier wieder unzählige Landwirtschaftsvehikel unterwegs sind. Wenn sie auch noch so schön sind, es ist kein Wunder, dass diese Alleen als verkehrsunsicher gelten.

Dieses Hinterland ist schlecht beschildert. Unzählige Male muss ich an Weggabelungen die Karte herauskramen, wobei es immer dunkler wird. Zum Glück habe ich das Karte lesen noch nicht verlernt. Ein Navi würde hier auch nicht weiter helfen. Das würde mich ziemlich sicher auf die Fernstraße mit dem Umweg lotsen. Und Zwischenstationen wie "Wyszynskiego" kann man in später Dämmerung nur schwerlich (und fehlerfrei) in das kleine Display eintippen. Allerdings kann man sie sich auch nicht wirklich im Kopf behalten.

Und wie immer in solchen Situationen kommen dann diese Gedanken auf: Waren da nicht vorhin diese Geräusche? Diese Zündung mit der selbstgemachten Geberscheibe ist gerade mal drei Monate drin und hat ihre Feuertaufe noch nicht wirklich bestanden. Das immer mal wieder vorkommende Reißen des Kupplungszuges - sonst eigentlich Routine - wäre hier nicht nur ärgerlich, sondern in diesen stockdunklen Alleen hundsgefährlich. Und auch der ADAC Auslandservice könnte nicht wirklich weiterhelfen - wenn man nicht mal richtig weiß, wo man ist!

Masuren mit dem Wankel-Gespann

Naturweg mit dunklen Alleebäumen im Sonnenschein.
Man stelle sich das nun im Gegenlicht der untergehenden Sonne oder in stockdunkler Nacht vor.

Inzwischen ist es ganz dunkel geworden. Endlich erreiche wieder die "Zivilisation". Nur noch 40 km trennen mich von der heimeligen Herberge. Im lockeren Trab schnurrt das Hercules-Gespann auf einer vollkommen leeren Autobahn dahin. Links liegt die Weichsel ruhig im fahlen Mondlicht. Eine ungeheure Hochstimmung kommt in mir auf. Ich habe es tatsächlich geschafft. Und auch die brave Hercules hat mich mit allen meinen Eigenbaulösungen nicht im Stich gelassen (hinterher sagt man immer: "natürlich!" - hinterher). Im Gegenteil ist das hier genau das richtige Einsatzprofil für ein kleines Gespann.

Masuren mit dem Wankel-Gespann
Schöne Erinnerungen:
Einsam auf dem Land stehende Kirchen, in vollkommen gutem Zustand.

Masuren mit dem Wankel-Gespann

Masuren mit dem Wankel-Gespann
Haufenweise schöne Alleen. Schön, solange es hell ist.

Nach all den Eindrücken dieses Tages ist es leicht, in mir ein Bild aufkommen zu lassen. Ein Bild von vor 100 Jahren.

Und ich begreife, warum diese Frau so schwarz und gebeugt daherkam: nach Verlust von 5 Geschwistern, Weggang aus dieser Heimat, Angst und Hunger des Ersten Weltkriegs, Inflation, Weltwirtschaftskrise, frühem Verlust des Mannes durch die Bergarbeiterkrankheit Staublunge und dem 10 Jahre langen Bangen um den Sohn in Krieg und Gefangenschaft.

Ich werde mir heute Abend in diesem Nobelrestaurant ein fettes Menü gönnen - in der Gegend, die meine Vorfahren vor 100 Jahren aus purer Not verlassen mussten. Und mir hinter die Ohren schreiben, wie wahnsinnig gut es uns geht! Und jeden Tag nutzen - carpe diem!

Und noch ein anderes Bild habe ich vor Augen. Von einer abwechslungsreichen, unberührten Landschaft am äußersten Rande der EU, in der die Natur noch das Sagen hat. Und in der die Zeit seit Langem stehengeblieben zu sein scheint. Nach all den Bemühungen um originalen Wiederaufbau wünscht man ihnen, dass dies durch etwas Tourismus belohnt wird. Damit nicht Alles wieder verfällt. Es mögen aber bitte nur die kommen, die wirklich den Sinn und die Muße dafür haben! Vom Massentourismus überrollte Idyllen gibt es bei uns schon genug. Es wäre schade drum!

Masuren mit dem Wankel-Gespann

Die einzigen Spuren an der Hercules: Die nach langer, hoher Belastung immer irgendwo heraus drückenden Ölnebel!

© 2014 Reiner Nikulski - Hercules Wankel IG

Letzte Aktualisierung am 15.04.2014  

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